Frau Fricke wundert sich über sich selbst

Neulich im Bus, da steht jemand vor mir und trägt ein T-Shirt, auf dem steht: 
„Be the person your eight year old self would be proud of.“ Uff! Bin ich das?

Ich schätze es ja nicht, wenn ich so mitten im Alltag von potentiell lebensverändernden Fragen angefallen werde. Aber jetzt ist sie da. Und sie lässt nicht los. Nun hat sie schon dieses Denk-Tourette ausgelöst, an dem ich leide. Die Frage verfolgt mich. Wörtlich. Als ich neben mich schaue, steht die achtjährige Hannah da.

„Was machst du denn hier?“ frag ich sie.
„Ich verfolge dich.“ sagt sie, als wäre das völlig normal.
„Ich gehe einfach nur nach Hause.“ sag ich.
„Prima“, sagt sie, „da gehe ich einfach nur mit.“

Ich zucke die Achseln. Im Fahrstuhl will sie auf den Knopf drücken. Ich lasse sie.
Sie guckt über die Schulter und zieht eine Augenbraue nach oben und die Mundwinkel nach unten. ‚Fahrstuhl‘ soll das heißen ’sehr nobel‘. Ich weiß, dass das aus ihrer Sicht so aussieht, denn sie wohnt im fünften Stock ohne Fahrstuhl, aber bitte, inzwischen sind ja auch einige Dekaden vergangen und die Standards haben sich verändert.

Als ich die Tür aufschließe, hüpft sie einfach vor. So vorwitzig hatte ich sie nicht in Erinnerung.
„Darf ich mich mal umschauen?“ fragt sie.
Ich zucke die Achseln:
„Mi casa es tu casa.“ sage ich und komme mir gleich irgendwie bekloppt vor.
Natürlich ist mein Haus auch ihr Haus.

Hannah hüpft los. 

„Willst du was trinken?“ rufe ich aus der Küche. Aber ich höre nur einen Schrei. Er kommt aus dem Büro. Ich rase.

„Hast du dir was getan?“ frage ich die kleine Hannah
„Sind das alles deine Bücher?“ fragt sie zurück
„Ja klar. Wem sollen die denn sonst gehören?“
„Keine Ahnung. Deinem Mann? Deinen Kindern?“
„Hab ich nicht.“
„Oh, das ist schade.“
„Wieso?“
„Haben doch alle.“
„Ich nicht.“
Hannah sieht mich immer noch bedauernd an.
„Mama hat auch keinen Mann.“ sagt sie.
„Das ist was anderes.“ sag ich.
„Warum?“
„Weil sie das unglücklich macht.“
„Und du bist glücklich?“
Ich überlege einen Augenblick zu lange und dann sage ich
„Ich bin jedenfalls nicht unglücklich. Und man braucht ganz bestimmt keinen Mann zum Glück. Kannste dir gleich mal merken. Das wird noch nützlich sein.“

Die kleine Hannah nickt automatisch, wie Kinder das so tun, wenn sie vorhaben Belehrungen sofort wieder zu vergessen. 

„So viele Bücher will ich später auch mal haben.“ sagt die kleine Hannah, „Hast du die alle gelesen?“
„Klar, hab ich die alle gelesen.“ sag ich. „Also fast alle. Den Stapel da drüben noch nicht.“
„Dann musst du ganz schön schlau sein.“ sagt sie. „Ich wär auch gern schlau.“
„Das bist du.“ sage ich. Aber ich weiß auch, dass sie mir das nicht glauben wird.

Hannah sagt erstmal nichts. Sie setzt ihre Wohnungsinspektion fort.
Sie unterhält sich kurz mit meinem Kuscheltier, sie bestaunt die Eiswürfel, die ich ihr in ihr Wasserglas tue, sie kann nicht fassen, wie groß meine Wohnung ist und dass ich ein richtiges Himmelbett habe. Am meisten beeindruckt sie aber, womit ich meine Tage verbringe.

„Und du hast keinen Chef?“ fragt sie.
„Naja, würde ich jetzt so auch nicht sagen.“ sage ich. „Ich hab ja Kunden, die was von mir wollen und mit denen muss ich mich auch abstimmen. Ich kann jetzt auch nicht immer das machen, was mir gerade einfällt.“
„Aber ein bisschen schon?“
„Ein bisschen schon. Dafür bin ich aber auch nicht so abgesichert wie andere.“
„Abgesichert?“
„Finanziell“
„Ist das wichtig?“
„Fühlt sich jedenfalls so an. Eigentlich hab ich immer irgendwie ein bisschen Angst.“
Hannah nickt.
„Ich weiß genau, was du meinst.“
Und ich weiß, dass sie das weiß.

„Und du musst nicht zur Arbeit?“ fragt die kleine Hannah
„Doch klar, da vorne, wo die Bücher stehen. Das ist mein Büro.“
Hannah staunt
„Das sieht aber total schön aus!“ sagt sie
„Deswegen hab ich es ja so eingerichtet.“
„Und wo arbeiten die anderen?“
„Die arbeiten da, wo wie wollen.“
„Du bist aber ein toller Chef.“ findet die kleine Hannah. „Wenn ich groß bin, will ich auch Chef sein. Nee, warte, ich will auch ein toller Chef sein.“
„Ich glaube, das kriegst du hin.“
Hannah zuckt die Achseln. Ich weiß, dass sie mir das nicht glaubt. Aber ich freue mich, dass ich schon weiß, dass sie sich irrt.

Dann fällt mir was ein: 

„Soll ich dir mal sagen, was ich an dir toll finde?“ frage ich sie
Die kleine Hannah zuckt zusammen. Mit Beurteilungen ganz im Allgemeinen steht sie auf keinem guten Fuß. Ich sag es ihr trotzdem.

„Ich finde es toll, dass du versuchst, mit allem klar zu kommen. Du übernimmst Verantwortung. Das wird später sehr nützlich sein.“ sage ich. „Und du bist so der Typ, der aus nem Papiertaschentuch und ner Büroklammer aus purer Langeweile eine Waschmaschine baut.“ Die kleine Hannah lacht. „Das ist auch gut. Das können viel zu wenige. Sollst mal sehen. Das wird später noch sehr vorteilhaft werden.“

Ich weiß, dass die richtig harten Zeiten für die kleine Hannah erst noch kommen werden. Ich würde ihr gern dabei helfen, aber ich weiß, dass ich das nicht kann. Und eigentlich ist die kleine Hannah ja auch hier, um mir zu helfen, eine Frage zu beantworten. Aber darüber, dass mir das gerade egal ist, dass sie mir wichtiger ist, weil sie noch so klein ist, darüber freue ich mich.

„Und ganz, ganz, ganz wichtig: Egal, was alle um dich herum sagen: Schreiben ist kein Quatsch, ok? Schreiben ist wichtig. Das ist kein Huttut. Du kannst das richtig gut. Lass dir nicht einreden, dass das nicht so ist. Guck“, sag ich, „ich lebe vom Schreiben. Das kannst du auch.“

Ich weiß genau, dass die kleine Hannah das vergessen wird. Aber versuchen kann man es ja mal.

„Und?“ frage ich „kannst du dir vorstellen, später auch so zu leben?“
Die kleine Hannah nickt. Ich reiche ihr ein Eishörnchen an. Sie reibt ihren Bauch.

„Das wäre total schön.“ sagt sie. „Aber ist eben nicht.“
„Warum?“ frage ich sie.
„Sowas“ sie lässt ihr Eis über meiner weißen Couch schweben „das ist nicht für Leute wie  mich.“
Ich nehme sie in den Arm.
Ich weiß, das wird sich immer so anfühlen.
Ich weiß, es wird immer falsch sein.

Und in dem Moment begreife ich, dass ich einen klareren Blick auf sie habe, als sie selbst
und sie einen klareren Blick auf mich.

„Ich bin stolz auf dich, kleine Hannah“ sag ich.
„Und ich wär stolz, wäre ich du.“ sagt sie.

Dann macht es Ping und ich habe eine Nachricht auf meinem Handy.

Eine Freundin schreibt mir, ihr neuer Roman würde bald erscheinen. Es ist der zwölfte glaube ich. Ich hab nicht mal meinen ersten Roman fertig. Ich bin der totale Loser!
Und sie, sie hat sogar einen Wikipedia-Eintrag. Einen Wikipedia-Eintrag!!!

„Sag mal“, frag ich sie, „bist du eigentlich stolz auf dich?“
„Naja“, sagt sie „könnte besser laufen. Also, ich verdiene gut und meine Bücher find ich echt klasse und so. Aber die könnten schon mehr Auflage haben.“
Heißt also: Nein.

Ich sage nichts. Ich stelle mir vor, wie ihr achtjähriges Ich vor einem Bücherregal steht und seinen eigenen Namen auf Bücherrücken liest. Ich stelle mir vor, wie es Wikipedia entdeckt und denkt: „Wooooow, das bin ja ich!“

Und ich wünschte mir, dass wir alle viel mehr Zeit mit diesen Knirpsen verbringen könnten, die unsere Wege unterhalb der Null-Linie markieren.

Die wären so stolz auf uns!

Und wir, wir könnten so viel von ihnen lernen.